Weg mit Hartz IV – und was dann?

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… so lautete der Veranstaltungstitel, der zu spannenden Vorträgen und Diskussionen führte.

Hier einige Impressionen. Außerdem möchte ich den Impulsbeitrag von Wolfgang Völker wiedergeben, der zu einem grundsätzlichen Nachdenken anregt.

Warum wir die Debatte, was nach Hartz IV kommen soll, nicht auf Fragen der Teilhabe an Erwerbsarbeit beschränken sollten.

von Wolfgang Völker

Die Debatte über das, was nach Hartz IV kommen soll, darf sich nicht auf eine Diskussion über Teilhabe an Erwerbsarbeit und beruflich Qualifizierung verengen. Im Gegenteil geht es um die zentrale Frage der Ausgestaltung der Existenzsicherung. Sozialpolitische Debatten, die Fragen der sozialstaatlichen Mindest-Sicherung und Fragen der Teilhabe an Erwerbsarbeit vermischen, tragen das Erbe der alten Hierarchie von Arbeiterpolitik und Armenpolitik sowie der klassischen Spaltung von würdigen Armen und unwürdigen Armen mit sich herum. Vor allem diese Spaltung treibt auch stark zu Moralisierungen. Von diesen Spaltungen sollten sich linke emanzipatorische Programmatiken befreien.

Wir wissen, dass die Teilhabe an Lohnarbeit auch in unserer kapitalistischen Gesellschaft ein zentraler Mechanismus der sozialen Anerkennung und Vergesellschaftung der Menschen/ von uns allen ist. Mit Oskar Negt zugespitzt formuliert, ist also ausgebeutet werden für viele subjektiv ein kleineres Übel als gar nicht ausgebeutet zu werden.

Wir wissen aber auch, dass die Dominanz der Lohnarbeit ein Produkt unserer Gesellschaft ist. Deren Ökonomie hat mit Andre Gorz gesprochen, das Kunststück fertig gebracht, den menschlichen Wunsch nach Tätigkeit mit der Notwendigkeit der Existenzsicherung über den Verkauf der eigenen Arbeitskraft zu verbinden.

Gleichzeitig lebt diese Ökonomie und unsere Gesellschaft von einem ganzen Haufen unbezahlter Arbeiten wie z.B. der Hausarbeit, der privaten Erziehungsarbeit, der Eigenarbeit, der ehrenamtlichen Arbeit, der politischen Arbeit, die systematisch nicht als richtige Arbeit erscheinen. Wenn wir die Debatte darüber, was nach Hartz IV kommt, auf Lohnarbeitspolitik und Arbeitsmarktpolitik beschränken, verleugnen wir dieses Wissen, zu dem uns nicht zuletzt feministische Kritik an einem auf Lohnarbeit beschränkten Begriff des Arbeitens verholfen hat.

Soziale Garantien für Freiheit in der Lebensführung statt Fördern und Fordern

Hartz IV hatte die Existenzsicherung extrem konditionalisiert und von Gegenleistungen, ja Unterwerfungsritualen der Menschen, die auf diese Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts angewiesen sind, abhängig gemacht. Die Jobcenter sind die institutionelle Verkörperung einer autoritären Politik der Lebensführung, eines aktivierenden Sozialstaats. Diese Politik beansprucht, zu wissen, was für die Leute gut und richtig ist. Eine emanzipatorische Politik, die diesen Namen verdient, muss mit solchen normativen Vorstellungen brechen. Noch die derzeit – z. B. bei Grünen und SPD – beliebte Argumentation, statt auf Sanktionen auf Anreize zu setzen, trägt autoritäre Vorstellungen über die Menschen mit sich herum.

Die Menschen werden, wie es ein verstorbener Freund von mir mal ausgedrückt hat, wie Reaktionsdeppen angesehen und behandelt. Als hätten sie keine eigenen Begründungen und Vorstellungen, wie sie leben wollen.

Nach Hartz IV brauchen wir soziale Garantien, die die Autonomie der Lebensführung der Leute bedingungslos anerkennt. Als der Soziologe Stephan Lessenich im Jahr 2007 der SPD mal erläutert hat, was Gütekriterien für einen zukunftsfähigen Sozialstaat sind, nannte er als einen von fünf Punkten die Neutralität der sozialstaatlichen Regelungen gegenüber den Lebensentwürfen der Menschen“.

(Die anderen vier waren übrigens: Garantie der materiellen und sozialen Voraussetzung zur Verwirklichung der Freiheits- und Beteiligungsrechte; Verbesserung der Chancen der Existenzsicherung durch rechtlich geschützte Erwerbsarbeit; Anerkennung von Migration als gesellschaftlicher Tatbestand; finanzielle Umverteilung).

Eine Grundsicherung oder Mindestsicherung ohne Sanktionen, ohne den Zwang, Lohnarbeitsbereitschaft darstellen zu müssen, ohne solche oder andere Unterwerfungsrituale ist als ein Beitrag zur Freiheit der Gestaltung des eigenen Lebens zu verstehen.

Die Zugehörigkeit zur Gesellschaft vollzieht sich ja keineswegs nur über die Teilhabe an Erwerbsarbeit, sondern auch über soziale Nähebeziehungen wie die familiären oder ganz frei gewählten soziale Lebenszusammenhänge. Auch hier bietet ein garantierte individuelle existenzielle Absicherung einen Beitrag zu mehr Freiheit. Zugehörigkeit zur Gesellschaft wird auch darüber gestaltet, dass wir Rechte haben. Hier hat Hartz IV quasi Rechtsauflösung betrieben, weil das Prinzip Fördern & Fordern bzw. „keine Leistung ohne Gegenleistung“ systematisch den Status von Leistungsberechtigten als Rechtssubjekte untergraben hat. Deswegen werden sie verrückterweise auch Kunden genannt. Deswegen fühlen sie sich auch immer wieder als Bürger*nnen „zweiter Klasse“ behandelt. Der Soziologe Berthold Vogel hat auf diese schwerwiegenden Folgen dieser „Vertraglichung“ des Verwaltungshandelns hingewiesen. Statt dass jemand Rechtsansprüche auf eine Leistung hat, wird die Leistung in einem Vertrag gewährt. Wie es um das Machtungleichgewicht zwischen den beiden Seiten des Vertrags aussieht, wissen wir. Im jetzigen verwaltungsmäßigen Management der Teilhabe sind Freiheitsrechte der Einzelnen gegenüber dem Staat bedroht.

Deswegen sollten wir auch aufhören davon zu reden, dass sich Sozialstaat und Leistungsberechtigte „auf Augenhöhe“ begegnen sollen. Das Bild trägt genau diese Vertraglichung in sich. Statt um „Augenhöhe“ geht es unter einer emanzipatorischen Perspektive um garantierte Rechte.

Lockerungsübungen

Was nach Hartz IV kommt wird das Ergebnis von politischen, letztlich auch sozialen Auseinandersetzungen sein. Meine Anregungen für die politische Diskussion lassen sich in sechs Lockerungsübungen zusammenfassen:

Erste Lockerungsübung: Abschied von der Aktivierung, Anerkennung der Autonomie der Lebensführung, Abschaffung der Sanktionen

Zweite Lockerungsübung: Abschied von der Verpflichtung, sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen. Es gibt genug Tätigkeiten für alle.

Dritte Lockerungsübung: Bedingungslose Gewährung der soziokulturellen Existenzsicherung. Dafür brauchen wir einen eigenen institutionellen Rahmen.

Vierte Lockerungsübung: Freiwilliger Zugang zu Angeboten der arbeitsmarktbezogenen und berufsbezogenen Beratungen und Leistungen. Der institutionelle Rahmen dafür muss auch organisatorisch von der Existenzsicherung getrennt sein. Er sollte deutschlandweit als Teil der sozialen Infrastruktur vorhanden sein. Über die Rolle der BA und die Rolle der Kommunen dabei gibt es dann sicher Kontroversen.

Fünfte Lockerungsübung: Für soziale Fragen, für Fragen der Lebensorientierung, Alltagsbewältigung, für besondere Lebenssituationen etc. sollte es eine von den bisher genannten Institutionen unabhängige Beratungslandschaft geben – und die gibt es ja auch schon. Diese sollten die Menschen nutzen können, wenn sie sie brauchen.

Sechste Lockerungsübungen: Die Höhe der existenzsichernden und die Teilnahme am sozialen und kulturellen in der Gesellschaft ermöglichenden Leistungen sollte sich nicht mehr an den Ausgaben der Haushalte in den unteren Einkommensschichten orientieren.

Bedarfsgerechtigkeit ist das Minimum. Es gibt reichlich Argumente, die belegen, wie falsch und niedrig gerechnet die aktuellen Regelsätze sind. Eine normative Orientierung der RS-Höhe in Richtung mittlerer Einkommenslagen befreit auch zu mehr Handlungsspielräumen.

Handlungsspielräume können auch dadurch vergrößert werden, wenn Mobilität, Bildung, Kultur als öffentliche Güter und „Infrastruktur zum Betreiben des eigenen Lebens“ (Heinz Steinert) allen gratis zur Verfügung gestellt werden.

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