Gedanken zur Corona-Krise

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Um es vorweg zu sagen: Ich habe so gut wie keine Antworten, aber dafür umso mehr Fragen.

Anlass, hier mal ein paar Gedanken aufzuschreiben, sind die erbitterten Diskussionen auf facebook, bei denen gleich jede und jeder als verantwortungslos dasteht, die oder der nicht alles fraglos und klaglos hinnimmt, was verordnet wird. Andererseits gibt es diejenigen, die unter Berufung auf zweifelhafte Referenzen wie u. a. Wolfgang Wodarg den Ernst der Lage nicht erkennen wollen, verschwörungstheoretisch unterwegs oder gar braun infiziert sind. Das wird aber eben oft nicht hinreichend differenziert.

Persönlich empfinde ich große Dankbarkeit, dass ich existenziell nicht betroffen bin und nicht zu einer Hochrisikogruppe gehöre, auch wenn ich vom Alter her bereits ein gewisses Risiko trage. Ich gehe an die frische Luft, genieße das schöne Wetter und halte das bei dem nötigen Abstand für sinnvoll und gesundheitsfördernd. Das Motto #stayhome finde ich deshalb irreführend.

Für den Moment kann ich also mit den Beschränkungen leben. Aber wenn ich daran denke, wie unsere Zukunft aussehen könnte, dann zeichnet sich für mich ein düsteres Bild ab.

Es wird inzwischen viel über Lockerungen des Shutdowns gesprochen und auch ich sehne sie herbei. Aber was ist eigentlich die Grundlage für eine solche Entscheidung? Um sich dem zu nähern, muss man einen Schritt zurückgehen und nach den Gründen für den Shutdown fragen. An dieser Stelle fangen m. E. bereits die Missverständnisse an. Ausgangspunkt war das Ziel #flattenthecurve – also ein Abflachen der Kurve, des Anstiegs der Neuerkrankungen, um Zeit zu gewinnen. Zeit, die für notwendig gehalten wurde, um Kapazitäten in der Intensivmedizin, auch die personellen, einschließlich der Beatmungsgeräte ausbauen zu können.

Was bedeutet das genau? Schonungslos betrachtet, ging es beim Shutdown weniger darum, die Zahl der Infizierten insgesamt zu reduzieren, sondern letztlich über einen längeren Zeitraum zu „strecken“. Es sieht so aus, als würde das auch gelingen. Aber damit ist längst nicht alles gut. Denn das ändert nichts an dem zum Teil tückischen, schweren und tödlichen Verlauf dieser Infektionskrankheit. Da helfen Kapazitäten auf Intensivstationen nur unzureichend weiter, denn es bleibt momentan die ernüchternde Erkenntnis, dass die Überlebenschancen relativ gering sind, wenn es einmal zu einer künstlichen Beatmung kommt. Und die weitere ernüchternde Erkenntnis ist, dass zurzeit die Mehrzahl der Menschen außerhalb eines Krankenhauses an Covid-19 sterben.

Hier setzt deshalb meine Kritik an. Die Verantwortlichen stellen es so dar, als ginge es unmittelbar um Leben und Tod. Das Strategiepapier des Bundesinnenministeriums liest sich erschreckend. Da wird ein “Worst-Case-Szenario” aufgemacht, wonach bei ungehindertem Verlauf über eine Millionen Menschen in Deutschland sterben würden. Dafür fehlt jedoch eine gesicherte Datengrundlage. Dies wird von verschiedenen Seiten kritisiert, sicher zum Teil auch interessengeleitet, aber das kann man m. E. nicht pauschal allen kritischen Stimmen unterstellen. Mir leuchtet die Erforderlichkeit folgender Daten (entnommen aus dem Beitrag von Prof. Paul Robert Vogt) ein:

  • eine exakte, weltweit gültige Definition der Diagnose «an COVID-19 erkrankt»: a) positiver Labortest + Symptome; b) positiver Labortest + Symptome + entsprechender Befund im Lungen-CT; oder c) positiver Labortest, keine Symptome, aber entsprechende Befunde im Lungen-CT.
  • die Anzahl hospitalisierter COVID-19-Patienten auf der Allgemeinabteilung
  • die Anzahl COVID-19-Patienten auf der Intensivstation
  • die Anzahl beatmeter COVID-19-Patienten
  • die Anzahl von COVID-19-Patienten am ECMO
  • die Anzahl an COVID-19 Verstorbenen
  • die Anzahl infizierter Ärzte und Pflegepersonen

Und natürlich benötigen wir eine Eingrenzung der Dunkelziffer durch entschieden mehr Testungen. Entscheidungen ohne das Vorhandensein einer ausreichenden Datengrundlage täuschen eine Handlungsfähigkeit, eine Sicherheit vor, die es nicht gibt. Sie gaukeln vor, wir müssten uns nur an das verordnete #stayhome halten und alles wird gut. Es wird aber nichts gut werden. Ich drücke es mal etwas drastisch aus: Wir werden wohl mit dem Shutdown erreichen, dass wir den ethischen Anforderungen unserer Gesellschaft genügen, allen Erkrankten, die nicht schon vor der Krankenhauseinweisung gestorben sind und die zu denen gehören, die bei intensivmedizinischer Behandlung überleben, diese Überlebenschance zu ermöglichen.

Bevor jetzt der Aufschrei kommt, sage ich gleich, dass ich das richtig finde. Ja, wir müssen das tun. Was ich aber falsch finde, sind die Vorstellungen, die von der Wirkung des Shutdowns vermittelt werden. Wer also auf die Todeszahlen starrt und meint, die Kritiker*innen des Shutdowns seien quasi Mörder*innen, hat falsche Vorstellungen von unserem aktuellen Wissen um die Wirkungen des Shutdowns und den derzeitigen medizinischen Möglichkeiten im Kampf gegen die Krankheit.

Vor diesem Hintergrund komme ich auf die Frage der Lockerung zurück. Wollte man nach den Szenarien des Bundesinnenministeriums wirklich die Zahl der Erkrankungen und damit auch der Todesfälle dauerhaft gering halten, müsste man den Lockdown für mindestens ein bis zwei Jahre aufrecht erhalten. Das kann aber angesichts der Kollateralschäden keine ernsthafte Option sein. Also werden wir schrittweise wieder in ein normaleres Leben zurückkehren, vielleicht auch mit Shutdowns zwischendurch (im Strategiepapier des Bundesinnenministeriums auch als “Hammer and Dance” bezeichnet). Volle Fußballstadien, Massendemonstrationen oder vergleichbare Menschenansammlungen wird es aber wohl auf längere Zeit nicht geben können. Trotz solcher länger andauernden Einschränkungen kann ich nicht erkennen, welche Konzepte für den Schutz von Risikogruppen bei jeglicher Form von Lockerung entwickelt werden. Lässt man zum Beispiel die Kinder wieder in Kita und Schule gehen, dann müssten sie und ihre Kontaktpersonen permanent isoliert von Älteren und Kranken werden. Aber ein Wegsperren von Risikogruppen kann nicht die Lösung sein. Hinzu kommt, dass gerade Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen besonders prädestiniert für die Verbreitung des Virus sind. Hier kann man andererseits auch am Konkretesten ansetzen. Statt mit der Darstellung von exponentiell ansteigenden Kurven den Eindruck eines katastrophalen Geschehens zu befeuern, sollten wir lieber unseren Blick darauf richten, wie wir gefährdete Menschen schützen können. Dann können wir mit der Dehnung der Kurve hoffentlich auch Leben bewahren.

Es bleibt aber dabei: Wir werden mit der Gefahr leben müssen, bis ein Impfstoff, vielleicht auch Medikamente gefunden wurden oder die Testkapazitäten ausgebaut werden konnten, um die identifizierten Fälle zu isolieren (was aber nur bedingt weiterhilft).

All das wirft für mich grundlegende Fragen auf (die sich im Detail unendlich fortsetzen ließen):

War es überhaupt sinnvoll und angemessen, einen so drastischen Lockdown zu verhängen?
Was genau ist denn eigentlich der Maßstab für eine Entscheidung über eine Lockerung?
Was sind die Kriterien für die Entscheidung, wo eine Lockerung begonnen wird und in welcher Reihenfolge in welchem Bereich gelockert wird?

Ich selbst hätte mir eine offenere Diskussion über die ergriffenen Maßnahmen gewünscht. Erst recht halte ich eine breite öffentliche Debatte über den Ausstieg aus dem Shutdown für dringend erforderlich. Es ist an der Zeit, dass die Exekutive wieder eine demokratische Kontrolle erfährt. Denn es beängstigt mich, mit welcher Geschwindigkeit und Intensität “den Regierenden z. T. absolutistische Vollmachten zugesprochen werden” (so heißt es in einem Thesenpapier, das u. a. der Verwaltungschef der Hamburger Gesundheitsbehörde mitgezeichnet hat) und auf drastische staatliche Interventionen wie in China geradezu bewundernd geschaut wird.

In dem Thesenpapier heißt es weiter: “Die beschriebene Tendenz soll hier jedoch nur begleitend Erwähnung finden und die Erwartung zum Ausdruck gebracht werden, dass die deutsche Gesellschaft stabil genug ist, die genannten Tendenzen wieder einzufangen: wir wollen unser Land nach Covid-19 noch wiedererkennen. Es muss jedoch in aller Deutlichkeit gesagt werden: Anleihen an totalitäre Systeme (z.B. China) oder autoritäre Systeme z.B. mit ausgebautem Sozialkreditsystem wie Singapur sind aus Sicht der Autoren mit dieser Wiederkennungserwartung nicht kompatibel.” Ich bezweifle, dass der Weg zurück so einfach sein wird. Ein Teil der Freiheitsbeschränkungen wird sich – wie aus Zeiten der Anti-Terror-Gesetze – verstetigen und das beunruhigt mich genauso wie die Vorstellung von einer noch übermächtigeren Exekutive.

“Wir werden dieses Virus nur mit demokratischen Mitteln besiegen können, denn wir sind auf die Vernunft und Mitarbeit der Menschen bei der Eindämmung von SARS-CoV-2 angewiesen. Wenn wir es mit der Methode Chinas versuchen, wird es auf Kosten von Menschenrechten und Demokratie gehen, werden totalitär-populistische Tendenzen, die die gesundheitlichen Gefahren nach außen und in das vermeintlich Fremde verschieben, weiteren Auftrieb erleben. Natürlich ist diese „schleichende Naturkatastrophe“, wie der Virologe Christian Drosten die Pandemie nennt, ein enormer Stresstest für jede Gesellschaft. Keine Panik und verantwortungsvolles Handeln sind die Maximen für die aktuelle Lage. Zugleich werden auf Dauer große Fragen neu zu diskutieren und als Lehre aus der Pandemie zu ziehen sein”, schreibt Christian Weis, der Geschäftsführer von medico international in der aktuellen Ausgabe des Rundschreibens.

Und zu dieser Diskussion gehört es natürlich auch, die Grundlagen unserer Gesellschaft neu zu denken. Hier sind Antworten der LINKEN gefragt. Stephan Lessenich deutet an (Beitrag in der FR), wohin uns die “Ahnung davon, was Solidarität auch meinen könnte”, führen kann.

Eines muss uns dabei klar sein: Es wird nie wieder werden wie es einmal war.

Und hier noch zum Nachlesen einige Grundlagen zum Coronavirus (Das wissen wir – und das nicht) bei Quarks.

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